Abondance et liberté - Einstieg & Kapitel 1

Alle Posts zur Lektüre von Abondance et liberté sind hier zu finden.


Auf der Suche nach Antworten in der Corona-Krise bin ich auf Bruno Latours Kommentar zur Pandemie gestoßen, worin er auf ein Buch mit dem unscheinbaren Namen Abondance et liberté von Pierre Charbonnier verweist. Latours Beschreibung des Buches ließ Interesse aufkommen, aber spätestens nachdem ich herausfand, dass er in einem Tweet schrieb, dass es schwer sei, die Wichtigkeit dieses Buches zu überschätzen, war klar, dass ich wenigstens versuchen musste es zu lesen. Im Januar 2020 erschienen, ist das Buch laut Verlag eine "noch nie dagewesene Historie". Der Relevanz des Buches, sowie seinem Umfang (sowohl materiell als auch historisch: das Buch umfasst knapp 450 Seiten und mehrere Jahrhunderte) geschuldet, habe ich gedacht: Wie besser ein solch imposantes Werk anzugehen, denn in einer schritt für schritt schriftlichen Aufarbeitung? Ich möchte deshalb versuchen mehr oder weniger regelmäßig meine Lektüre festzuhalten und so versuchen die zentralen Ideen und Ansätze zu erfassen - weniger als Versuch der verständlichen Zusammenfassung des Buches, denn zur Ordnung meiner Gedanken und meines Verständnisses.
Fangen wir also mit dem ersten Kapitel an:

1. Critique de la raison écologique

Die Frage, was der Auslöser sein könnte, ein Werk zur politischen Ökologie zu verfassen, beantwortet sich von selbst. In einer kurzen Einleitung resümiert Charbonnier, was sich ökologisch wie politisch in den fünf Jahren, in denen er geschrieben hat, verändert hat, sodass man „eine zwar nahe Vergangenheit wie ein komplett anderes Universum“ (7)1 wahrnimmt.
Für Charbonnier ist die Klimakatastrophe jedoch keine rein ökologische Krise mit rein ökologischen Auswirkungen. So geht es auch nicht darum, den Klimawandel aufzuhalten, indem etwa technologische Lösungen entworfen oder ökonomische Möglichkeiten gefunden werden, um den Klimawandel zu verlangsamen. Es geht nicht darum die Ökonomie der Natur anzupassen, so wenig zu produzieren, dass sich die Erde erholen kann, und wir anschließend wieder weitermachen können wie zuvor. Ebenso solle die scheinbare Ausweglosigkeit der Situation nicht in einer fatalistischen Hedonismus oder eine autoritäre Klimatyrannei führen. Die Klimakatastrophe gilt es weniger ökologisch und/oder ökonomisch zu „lösen“, als sie viel mehr als durch und durch politisches Problem zu erkennen; als ein Problem, das uns nicht einen moralischen Spiegel vorhält, in dem wir unser Abkommen vom Weg erkennen, sondern als Brennpunkt, der uns die Fundamente unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses offenbart. Als Moment, das die soziale Frage - also „die Spannung die aus der Orientierung der Gesellschaften einerseits hin zum materiellen Wohlstand und andererseits zur Konstruktion eines juristisch-politischen Systems der auf Gleichheit und Freiheit bezogenen Rechte resultiert.“ (22) - aus dem reinen abstrakt Politischen in die materielle Welt reißt.
Unsere Gesellschaft versteht sich als nach Autonomie strebend, in der nicht nur jeder Mensch frei von äußerlichen Zwängen, sondern auch die Gesellschaft an sich eine Instanz sui generis ist. Besonders eindrücklich ist damit der Aspekt, dass, selbst wenn die Gesellschaft selbstverständlich in einer Abhängigkeit mit ihr äußerlichen (also Umwelt-) Faktoren steht, diese niemals ihr inneres Organisationsprinzip beeinflusst: „[Dieses] ist vollständig von innen heraus definiert.“ (46) Die Klimakatastrophe jedoch stellt in diesem Selbstverständnis jedoch einen radikalen Bruch dar. Es sei daher nötig genau dieses Projekt der Autonomie zu hinterfragen und neu zu konzipieren.

Notwendig hierfür ist für Charbonnier eine grundsätzlich andere Art der Geschichtsschreibung der Umwelt und unserer Beziehung zur Umwelt. Statt einer separatistischen Historie, in der man, von ökologischen Normen wie der Wertschätzung und dem Schutz der Natur ausgeht - und somit die Natur sozusagen antropomorphisiert - und versucht diese Normen und Ideen historisch zu identifizieren und zu lokalisieren, fordert Charbonnier eine "Suche nach Variationen, nach historischen Transformationen, die die strukturelle Beziehung zwischen dem natürlichen und dem sozialen in der Ideengeschichte beeinflussen" (28). Die histoire environnemental des idées sieht die Beziehung zur Umwelt nicht als Ziel, das es zu identifizieren gilt, sondern als Ausgangspunkt zur Analyse der Ideen, Kontroversen und ihrer Geschichte (ebd.).
Das Zusammenspiel zwischen Überfluss (abondance) und Freiheit (liberté) ist für Charbonnier hierbei der wichtigste Punkt, denn es zu analysieren gilt. Weshalb sind wir seit gut 3-4 Jahrhunderten in einem kontinuierlichen Fortschritt eingebettet? Woher kommt dieses Streben nach Überfluss, wonach jede*r darauf hoffen darf und kann, mehr zu haben als die Generation davor? Für Charbonnier ist es zentral, die "rein politischen Gründe, die eine solche Perspektive des Fortschritts wünschenswert gemacht haben" (45) zu erfassen und postuliert: "Das Streben nach Überfluss ist in eine politische Rationalität eingebettet, ohne die es unverständlich ist" (ebd.). Freiheit sei undenkbar (oder zumindest kann man die Vermutung anstellen, dass die Verheißung der individuellen und kollektiven Freiheit, ohne die Möglichkeit des materiellen Überflusses weniger verlockend erscheint (vgl. 49)) ohne den materiellen Bezug zur Umwelt.

Im weiteren Verlauf des Buches wird Charbonnier daher diese materiellen Bezüge und Interaktionen zwischen politischen Idealen und Gedanken und der Umwelt herstellen. Auch wenn ich hier vermutlich einiges sehr reduziert wiedergegeben - oder gar falsch verstanden - habe2, ist bereits der Ausgangspunkt unglaublich faszinierend und die methodologische Sorgfalt bewundernswert. Daher bin ich für jegliche Hinweise oder Kritik dankbar! Aber auch wenn man keine Ahnung hat, scheint sich die Einschätzung Latours leicht bestätigen zu lassen.

Cover-Bild: National Gallery of Art / CC0: Frank Meadow Sutcliffe, Whitby Fishermen, c. 1885

  1. Sofern nicht anders angegeben, beziehen sich alle Verweise auf Abondance et liberté
  2. Das Buch beeindruckt einerseits mit seiner komplexen Sprache, andererseits mit durchaus poetischer Bildgewalt. So schreibt Charbonnier z.B. zur Erkenntnis der limitierten Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre: „Über unseren Köpfen sammelt sich also die Asche der industriellen Freiheit an.“ (17)