Abondance et liberté - Kapitel 2 "Souveraineté et propriété"

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Wem gehört die Erde? Bevor wir auf die zentrale Frage der politischen Philosophie des 17. Jahrhunderts in Abondance et liberté zu sprechen kommen, ist ein kleiner Rückgriff nötig, der der Struktur dieser Lektüre bis jetzt geschuldet ist. Während der letzte Post zum ersten Kapitel des Buches die Einleitung dieser Lektüre mit dem Fundament der Analyse Charbonniers darstellte, beginnt nun die tatsächlich methodologisch-historische Arbeit, um die Entwicklung der Beziehung zwischen Überfluss und Autonomie in der Gesellschaft und dem politischen Denken zu untersuchen. Zur Methodologie muss daher zuvor gesagt werden, wie Charbonnier grundsätzlich sein Vorgehen historisch einteilt, was in der eigentlichen Einleitung des Buches zur Sprache kommt (vgl. 9f.).

Die historische Analyse ist eingeteilt in drei größere Blöcke, die von zwei massiven Brüchen getrennt werden. Diese Blöcke sind die „präindustrielle Moderne“ (9), kurz gesagt das Zeitalter der Erde, darauf folgend das Zeitalter der Kohle, hervorgerufen durch die industrielle Revolution, und schließlich, im noch nicht abgeschlossenen Stadium, das des Menschen, das Anthropozän, hervorgerufen durch die fortschreitende Zerstörung der Umwelt. Jeder dieser Blöcke brachte und bringt damit unterschiedliche politische Ideale im Bezug zur Umwelt hervor, die sich nicht von diesem Bezug lösen und nur begrenzt ohne ihn verstehen lassen.


Mit Kapitel 2, "Souveraineté et propriété", beginnt nun also der Hauptteil der historischen Analyse, unter dem Schatten der eingangs gestellten Frage. In dieser steht der Begriff der Erde in einer zweifachen Ausführung; die Philosophen des 17. Jarhunderts, von denen Hugo Grotius und John Locke exemplarisch behandelt werden, beschäftige primär die Frage nach der Aufteilung der Erde - also ein territorialer Bezug -, was durch die radikale Expansion der verfügbaren Erde, hervorgerufen wurde. Insbesondere Locke, dessen Werk Charbonnier stark unter Einbezug von dessen biografischem Hintergrund als Legislator Kaliforniens untersucht, war geprägt von der neuen Welt mit all ihren bis dahin unbeanspruchten Böden.
Der zentrale Aspekt für die historische Untersuchung des politischen Denkens des 17. Jahrhunderts ist damit allgemein gesagt die Aufteilung des Raumes. Genauer: Wie kann der geographische Raum aufgeteilt werden und welche Konditionen beansprucht die Legitimität der Herrschaft über ihn (vgl. 61)? Der politische Diskurs über Souveränität und Eigentum enthält damit eine juristische Komponente, die nicht losgelöst von ihrem Bezug zur (Um-) Welt verstanden werden kann (vgl. 65).

Bereits bei Grotius deckt Charbonnier so mehrere Indizien einer sogenannten Geo-Philosophie auf, in der der materielle Bezug wenn nicht unbedingt immer Vorrang hat, aber dennoch eine zentrale Rolle spielt:

Durch die Praktiken und Techniken hinweg hinterlässt die Welt ihre Spur in den juristischen Regelungen (75)

Es ist bemerkenswert dass in der Philosophie Grotius' die Welt keine sekundäre Rolle, etwa die eines zusätzlichen, verstärkenden Mechanismus‘ einnimmt, sondern die juristischen Aspekte in direkter, unvermittelter Beziehung zu ihrem materiellen Kontext stehen. Die Umwelt ist kein verstärkender Faktor sondern die materielle Basis für Legitimität, was im Laufe der Zeit im 18. Jahrhundert abgeschwächt wird, wo die „Naturalität dieses Rechts sich essenziell auf die allgemeine Disposition des menschlichen Geistes“ (ebd.) beziehen wird und die Konzepte von Souveränität und Eigentum das Zusammenspiel zwischen „Welt und Konzepten“ (ebd.) teilweise in dieser Form verlieren werden.
Bei Grotius hingegen lässt sich der materielle Bezug an mehreren Punkten identifizieren, so zum Beispiel in der Frage des Eigentums hinsichtlich der Weltmeere. Ausgehend von einem, nennen wir es Rechtsstreit zwischen den Niederlande und Portugal, worin letztere versuchten die Alleinherrschaft über die asiatischen Meere zu gewinnen (66), erörtert Grotius die Frage nach dem Eigentum und dessen Exklusivitätsanspruch. Materielle Dinge lassen sich so nur rechtmäßig aneignen, wenn sie sich materiell abgrenzen lassen, „was die einzige materielle Technik ist, von der aus man ein Recht bilden kann“ (67) und wenn sie sich dauerhaft exklusiv aneignen lassen, anders gesagt: Wenn etwas trotz des Nutzen einzelner dennoch die materielle Möglichkeit der Nutzung aller anderen bietet - also genug ist - muss diese gemeinsame Nutzbarkeit erhalten bleiben. Grotius führt damit Dinge in der Natur ein, die qua ihrer Natur einer möglichen Aneignung widersprechen, wie zum Beispiel der Wind oder die Sonnenkraft.
Beachtlich ist auch, dass der materielle Bezug sich nicht nur rein auf die Beziehung zur Umwelt in deren Nutzbarkeit, sondern auch im rein politischen äußert. Wobei hier angemerkt werden muss, dass diese strikte Trennung in „rein politisches“ für Grotius keinerlei Rolle zu spielen scheint. Wo wir Souveränität als „politisches, konstitutionelles, Recht und privates, ökonomisches Recht“ (70) trennen würden, sieht Grotius sie als ähnliche Punkte auf einer Achse, die aber nicht in ihrem Wesen verschieden sind, da der Auslöser für die Frage nach dem Recht immer auf Basis eines Konflikts ist, welcher die „menschlichen Kapazitäten der Regulation auf die Probe stellt“ (ebd.). So postuliert Grotius keinen fundamentalen Unterschied zwischen einer privaten Aneignung von Land und einer politischen. Auch letztere solle den materiellen Bezug aufweisen und „die Begrenzung [eines] Territoriums muss sich tatsächlich allen als manifestes Phänomen durchsetzen“ (74).

Während bei Grotius also die Frage nach dem reinen Eigentum thematisiert wird, lässt sich bei John Locke eine engerer Fokus auf die Verbesserung der Erde feststellen, in dem „Eigentum im Kontext der Monetarisierung des Grundwerts“ (80) steht. So stellt für Locke Arbeit letztendlich der definierende Faktor zur Eigentumszuschreibung dar, da diese „die Dinge praktisch mit einem Individuum identifiziert“ (ebd.). Somit liegt der materielle Fokus Lockes nicht auf den Dingen - den Früchten der Erde oder den Tieren - sondern auf der Erde selbst. Der Wert der Erde liegt damit in der produktiven Basis, die diese bildet; Produktivität, die „nur durch die menschliche Arbeit, wissenschaftliche Kenntnis und Technik die investiert werden aktualisiert wird“ (80f.). Für Locke ist damit also in der Rolle des Eigentums die Verbesserung im Sinne einer Wertschöpfung, einer Fassung der produktiven Basis der Erde zentral. Die materielle Abgrenzung des Bodens stellt damit das primäre Symbol des Eigentums dar: „Sie ist es, die den praktischen Einfluss auf ein Stück Land materialisiert, die seine privilegierte Beziehung mit einem nutzenden Eigentümer kundtut und die Investition einer ausreichenden Quantität von Wissen und Arbeit signalisiert.“ (81).
Aus dieser wertschöpfenden Definition des Eigentums wird schnell deutlich, dass Locke hiermit „die menschliche Aktivität organisieren und hierarchisieren“ (82) kann: Durch den Fokus auf die Arbeit, das notwendige Know-How, sowie die Investition postuliert Locke eine Trennung zwischen wertschöpfenden und nicht-wertschöpfenden (Locke bezieht sich hier auf die Native Americans) Personengruppen. Da letztere keine Wertschöpfung aus der Erde ziehen (wollen), können sie nach Locke aus den juristischen Beziehungen zur Erde ausgeschlossen werden. Interessant ist hier auch, dass für Locke unter anderem zwar die Arbeit an der Erde im Mittelpunkt steht, er aber die tatsächliche produktive Kraft dem Investor zuschreibt, und nicht den tatsächlichen Arbeitern: „[S]elbst wenn die Verbesserung ein technischer Prozess ist, der die Kooperation mehrerer Angestellten erfordert, ist sie philosophisch das Werk eines einzelnen, eines Individuums - dessen, der die Initiative ergriffen hat, sein Kapital zur Wertschöpfung dieses oder jenes Bodens zu riskieren.“ (82f.) Hiermit wird deutlich, dass auch Lockes Denken, mit seinen politischen, ökonomischen und sozialen Auswirkungen, eine unvermittelt materiellen Bezug aufweist.

Charbonnier präzisiert am Schluss des Kapitels noch einmal, dass es nicht darum gehe, hier eine radikale Neuinterpretation dieser klassischen Denken anzuführen, sondern „lediglich eine analytische Dimension hinzu[zu]fügen, die in diesen Lektüren generell fehlt“ (86). Die Gesellschaften dieser Zeit sind in ihrem Denken geprägt von ihrem Bezug zur Umwelt, wobei dieser keine sekundäre, extrinsische Ebene darstellt, sondern unter anderem „die materielle Basis für Hierachieren und interne Asymmetrien liefern“. (ebd.)
Bei der Lektüre des Kapitels wird schnell deutlich, wie sehr das eigene Denken in politischen Ideen auch losgelöst ist von ihrem materiellen Bezug. Wo man beispielsweise beinahe intuitiv eine Trennung zwischen politischem Territorium und Privatbesitz stellen würde, sieht Grotius zum Beispiel ein materielles Kontinuum auf einer gemeinsamen Basis. Auch trotz des verstärkten Einbezugs materieller Aspekte im öffentlichen und politischen Bewusstsein in den letzten Jahren wird klar, wie sehr wir allgemein eine rein abstrakte Form von politischem Denken und politischen Idealen annehmen.

Wie immer bin ich dankbar über jegliche Rückmeldung, Kritik, Hinweise auf Auslassungen oder mangelndem Verständnis. Das Buch ist tatsächlich sehr dense, weshalb mich die Lektüre länger fordert, als angenommen. Ich bin dennoch frohüber dieses Unterfangen. Erst wenn man versucht einen halbwegs lesbaren und sinnvollen Text über etwas zu schreiben, merkt man, wie wenig man tatsächlich anfänglich verstanden hat.

Cover-Bild: National Gallery of Art / CC0: Frank Meadow Sutcliffe, Dinnertime, c. 1890