Abondance et liberté - Kapitel 5 "La démocratie industrielle"

Alle Posts zur Lektüre von Abondance et liberté sind hier zu finden.


Ging es im letzten Post und Kapitel um die Kohlekraft an sich und deren Bedeutung für die Konzeption der Freiheit im 18. Jahrhundert, begeben wir uns im 5. Kapitel, „La démocratie industrielle“, mitten hinein in das tumultige 19. Jahrhundert und sind damit im Hauptteil des Buches und der Zeit zwischen erstem großen Bruch und dem zweiten angekommen. Das eindrückliche Aufkommen der sozialen Frage, gigantische soziale Veränderungen, sowie wissenschaftliche Revolutionen, all das zeigt bereits, wie umfassend die gesellschaftlichen Veränderungen im 19. Jahrhundert waren. Doch ganz grundsätzlich offenbaren sich darin fundamentale Konflikte zwischen den Hauptaspekten des Buches, namentlich Überfluss und Freiheit, deren bedeutendste Äußerung sich, zwar zeitlich verschoben, aber - wie sich zeigen wird - konzeptuell konvergent, sowohl im Sozialismus, als auch in der Soziologie zeigt.
Wahrscheinlich da ersteres einen bedeutend kontroverseren Begriff als letzteres darstellt, greift Charbonnier direkt am Anfang des (langen) Kapitels vorweg, um eine Definition desselben zu geben:

„Wir definieren sozialistisch hier als einen konzeptuellen Ansatz, für den die Verwirklichung der politischen Moderne zugunsten einer Berücksichtigung der sozialen Effekte des materiellen Überflusses, der produktiven und industriellen Ausrichtung der Zivilisation, hintenangestellt wird“ (164)

Die konzeptuelle Linie, die Charbonnier vom Sozialismus, anhand des französischen Ökonomens Pierre-Joseph Proudhon, zur Soziologie Émile Durkheims zieht, ist daher in der Problematisierung des materiellen Überflusses und dessen Auswirkung auf das Soziale zu lokalisieren, anders gesagt: In der „sozialen Rekalibrierung, die nötig ist, um zu verhindern, dass die Steigerung der Produktivkräfte nicht zur Auflösung des Sozialen und der Formen der Solidarität, auf denen es beruht, führt.“ (165).

Den Folgerungen sowohl Proudhons, als auch Durkheims liegen das Konzept der Autonomie-Integration, entgegengesetzt der im letzten Post angeführten Autonomie-Extraktion, der „liberalen Konzeption der Freiheit“ (166) zugrunde. Da diese beiden Konzepte von zentraler Bedeutung für das gesamte Vorhaben des Buches sind, und ich die Autonomie-Extraktion im letzten Post nur angerissen habe, lohnt es sich hier nochmal das generelle Konzept genauer unter die Lupe zu nehmen, um die Ansatzpunkte der Kritik Proudhons und Durkheims nachvollziehen zu können.

Zwei Konzeptionen der Autonomie

Wir hatten bereits beschrieben, wie das Konzept der gesellschaftlichen Autonomie nur ein rein ideales Konzept ist, seinen „extraktive[n] Charakter (...) tatsächlich aus [seiner] Begegnung mit der Realität“ entspringt (157). Doch was ist dieser extraktive Charakter überhaupt? Abseits von dem Konzept an sich, entspringt eine Schwierigkeit dieser Begriffspaare im Deutschen sicherlich aus einem sprachlichen Unterschied. So findet man, zumindest erfahrungsgemäß, im Französischen weitaus häufiger Begriffspaarungen, wie zum Beispiel „juridico-politique“ (um sowohl eine juristische, als auch politische Komponente zu kennzeichnen), oder eben „autonomie-intégration“, bzw. „autonomie-extraction“.
Daher ist Autonomie-Extraktion1 nicht nach der, nennen wir sie, deutschen Leseweise zu verstehen, wonach sich Extraktion auf die Autonomie selbst bezieht - im Sinne von: Autonomie, die extrahiert wird -, sondern Autonomie, die einen extraktiven Charakter besitzt. Was bedeutet das?

„Das Projekt der Autonomie besteht, erinnern wir uns, darin, eine politische Gemeinschaft zu bilden, die sich selbst transparent ist, die ihre Gesetze und ihre Orientierungen aus dieser Kenntnis, aus dieser Repräsentation ableitet.“ (156)

Wie im Buch zentral behandelt wird, kann diese Autonomie natürlich nicht komplett unabhängig von äußeren Einflüssen bestehen, wie wir bereits mehrfach gesehen haben. Sei es der Boden als Eigentumsmarkierung, die Ressourcen des Bodens, oder die Kohle als Energievorrat; die sich autonom wollende Gesellschaft sieht sich konfrontiert mit einer Materialität, die ihr extern ist. Die Konzeptionen Autonomie-Extraktion und Autonomie-Integration stellen nun die Art dar, wie mit dieser Externalität umgegangen wird, wie das Projekt der Autonomie damit in Einklang gebracht wird. Anders gesagt: Wie das Ideal der Freiheit mit Einschränkungen umgeht.
Proudhon führt in seinem Werk „System der ökonomischen Widersprüche“ zum Beispiel eine eindrückliche Konzeption der Freiheit von Charles Dunoyer an, die besagt:

„Ich nenne Freiheit die Macht die der Mensch erwirbt, seine Kräfte einfacher zu nutzen, indem er sich von Hindernissen, die die Ausübung derer einst behindert hätten, frei macht. Ich sage dass er freier ist, je weiter er von den Dingen entfernt ist, die ihn gehindert hätten, seine Kräfte zu benutzen; dass er diese Dinge weiter von sich entfernt hätte; dass er die Sphäre seines Handelns vergrößert hat.“ (179)

Wir erkennen hier einen „prototypischen Ausdruck (...) der Autonomie-Extraktion“ (ebd.). Für Dunoyer bedeutet Freiheit die Entfernung, die maximal mögliche Überwindung von Dingen, die diese Freiheit behindern könn(t)en. Extraktion bedeutet, die Hindernisse so weit wie möglich aus der Sphäre des eigenen oder gesellschaftlichen Handelns zu entfernen, die Hindernisse „auf Distanz zu halten“ (180), um so den eigenen Handlungsspielraum zu maximieren. Es geht also genauer gesagt hierbei nicht so sehr darum, wie oben gesagt, das Projekt der Autonomie mit Externalitäten in Einklang zu bringen, denn Externalitäten soweit wie möglich zu extrahieren.
Die praktische Umsetzung dieser Konzeption der Autonomie werden wir im Denken Proudhons und Durkheims erkennen. Für den Gegenpol, die Autonomie-Integration sei hier gesagt, dass es im Gegensatz zur Extraktion von Externalitäten die Integration dieser in die Freiheit beabsichtigt, wir hier also tatsächlich von einem Einklang sprechen können.

Die sozialistische Kritik Proudhons

Kehren wir zurück ins 19. Jahrhundert. Geboren aus dem Liberalismus und der radikalen Umwandlung der Ökonomie durch die Kohlekraft finden wir hier eine Gesellschaft vor, die grundsätzlich in der Ökonomie ihr Organisationsprinzip findet, worin Arbeit und Eigentum die primären Verwirklichungsmechanismen sind. Dementsprechend nachvollziehbar, dass diese die Hauptkonzepte darstellen, die in der sozialistischen (und später soziologischen) Gesellschaftskritik zum Tragen kommen.
Grundsätzlich kann man festhalten, dass das 19. Jahrhundert für das Konzept des (Grund-)Eigentums eine eindrückliche Paradoxie bereithält. Während das Konzept des Eigentums in den vorherigen Jahrhunderten, wie im zweiten und dritten Post behandelt, seine zentrale Materialität im Boden und der Nutzung des Bodens hatte, geht dieser Aspekt im Zeitalter der Kohle mehr und mehr verloren. Tatsächlich vollzog sich aber in der Ökonomie und im Recht keine ebensolche Wandlung im Konzept des Eigentums, was einen Widerspruch zwischen dem einst egalitären und gerechten Verständnis des Eigentums und dem realen ökonomischen Bezug im 19. Jahrhundert zum Boden offenbart.

„Die Beharrlichkeit der exklusiven Beziehung zur Erde als Prototyp der gerechten Beziehung zu den Dingen, und damit der gerechten Beziehung zwischen Menschen, verdeckt andere möglichen Beziehungen (...) Das beharrliche Festhalten am Eigentum übersetzt also die strategische Aufrechterhaltung der dominanten Klasse einer erdachten räumlichen und ökonomischen Ordnung, mit einer manifesten Diskrepanz der materiellen Situation der industriellen Gesellschaften“ (169f.)

Die Arbeit spielt hier nun die tragende Rolle eines effektiven Inhalts für das Eigentum. Dieses stellt damit ein ökonomisches Ordnungskonzept dar, welches durch Arbeit seine Verwirklichung erhält. Das Projekt des Sozialismus, welches wir folgend mit Proudhon beleuchten werden, befasst sich schließlich grundsätzlich mit „den Widersprüchen zwischen zwei Arten die Arbeit und das Eigentum zu begreifen“ (173); auf der einen Seite als „universelle anthropologische Gegebenheiten“ (ebd.), die relativ unabhängig vom Sozialen sind - auf der anderen Seite als soziale Aspekte, das heißt, als soziale Tatsachen, die sozial begriffen, integriert und geregelt sein können und sollten.

Besonders bemerkenswert ist, sowohl bei Proudhon als auch bei Durkheim, die differenzierte Kritik am liberalen Produktionsprozess. Selbst bei der eindrücklichen kritischen Auseinandersetzung mit der Eisenbahn bei Proudhon oder Durkheims Appell zur Erneuerung der Berufsverbände geht es zwar darum, die vorherrschenden Produktionsprozesse und die daraus resultierenden sozialen und politischen Aspekte infrage zu stellen, aber zu keiner Zeit um die komplette Negation der Produktionsweisen. Anstatt diese komplett hinter sich zu lassen, führt der Ausweg aus den modernen Widersprüchen „durch die Intensivierung ihrer politischen Bedeutung“ (176).

Für Proudhon stellt dabei wie gesagt die Eisenbahn einen besonders markanten Indikator des liberalen Projekts dar, der einerseits bestehende Berufszweige (etwa Lieferdienste per Pferd) plötzlich verschwinden lässt, andererseits einen unglaublichen Einfluss auf sowohl die zeitliche, als auch die räumliche Komponente der Arbeit und Produktion ausübt. Wo übliche Produktionszweige und die Ausübung der Berufe einen unmittelbaren materiellen Bezug zur Umwelt aufwiesen, schwebt die Eisenbahn quasi unberührt auf einer anderen Ebene über diesen Beziehungen: „Während die Kanäle zufrieren, die Straßen verschlammen und versperrt sind, während Tier und Mensch fehlbar sind, verdankt der Zug seine motorische Kraft nur einer Energie, die unabhängig vom Klima, der Anstrengung und der Krankheit ist.“ (178).
Dies hat beträchtliche Auswirkungen auf die ökonomische Basis des Handels und der Produktion. Zum ersten Mal finden wir damit eine Situation vor, in denen Produktion und Handel beinahe vollständig autonom, losgelöst von materiellen Bezügen sind. Der Handel wird so mehr und mehr eine komplett autonome Sphäre. "Zwar ist die Einschränkung nicht als solche abgeschafft, aber (...) sie ist der sozialen Welt endogen." (179) Anders gesagt: Zwar gibt es natürlich weiterhin räumliche und zeitliche Begrenzungen der Arbeit und der Produktion - das Kohlebergwerk kommt der Industrie räumlich nicht tatsächlich näher -, diese sind aber nicht mehr an der Gesellschaft äußerlichen Faktoren geknüpft und von ihnen mediiert. Die Durchquerung des Raumes, der zwei Orte einer Produktionskette voneinander trennt, beruht mit der Eisenbahn beinahe ausschließlich auf menschlichen Faktoren und ist unabhängig von natürlichen Faktoren. "Die Ware ist damit sozusagen von den «Reibungen» des Terrains befreit" (178). Wir können hier also durch die Geburt einer vollkommen unabhängigen sozialen und ökonomischen Sphäre beobachten.
Und gerade dies ist für Proudhon und den politischen Diskurs im 19. Jahrhundert eine Gefahr. Anstelle einer vollkommen autonomen Ökonomie, die der Gesellschaft ein Ordnungsprinzip bietet, zielt der politische Diskurs um Proudhon darauf ab, "die funktionalen Interdependenzen" (180) in der Gesellschaft und der Industrie anzuerkennen und diesen ihre politische Signifikanz zu geben. Für Proudhon stellt in "System der ökonomischen Widersprüche" die "solidarité contractuelle" (181), also die vertragliche Solidarität eine Art der Verwirklichung "demokratischer politischer Strukturen in der professionellen Organisation, in der Teilung der produktiven und intellektuellen Aufgaben dar." (ebd.) Anstelle der Konkurrenz des Marktes, zwischen Produzent und Konsument, sowie untereinander, setzt dies eine tatsächliche Gegenseitigkeit. Es gilt also, die liberale Konzeption eines komplett unabhängigen Marktes gegen ein Prinzip der gesellschaftlichen Autonomie einzutauschen, in dem "Individuen ihre Emanzipation nicht gegen sondern innerhalb differenzierter professioneller Gruppen findet, die selbst autonom gegenüber der zentralen Macht sind." (ebd.)

Die soziale Aufgabe bei Durkheim

Während bei Durkheim das Thema der Eisenbahn zwar auch zu Tragen kommt, ist in seinem Denken - wenig überraschend - die Rolle des sozialen Körpers und des kollektiven Schicksals interessanter und eindrücklicher. Es geht daher um die Frage, wie sich die Gesellschaft selbst ihren Sinn gibt. Besonders sein Werk Le suicide gibt uns im Hinblick auf den moralischen Charakter der Gesellschaft Aufschlüsse über seine Konzeption der gesellschaftlichen Autonomie. Während der klassische Liberalismus die ökonomischen Fortschritte, wie etwa der Fokus auf die Arbeitsteilung, oft in einem utilitaristischen Licht beleuchten, wonach die Arbeitsteilung primärer Faktor zum Wachstum (wir erinnern uns an das intensive und extensive Wachstum) und damit zur höheren und einfacheren Bedürfnisbefriedigung darstellte, nimmt Durkheim dies genauer unter die Lupe.
Die Vorstellung, die gesellschaftliche Ordnung durch die Ökonomie führe zu einer höheren Befriedigung, weniger externen Begrenzungen und Bedingungen, mehr Freiheit und damit einhergehend einem höheren gesellschaftlichen Glück, kritisiert er in seinem Werk eindrücklich und kehrt es ins Gegenteil.

"Wenn Armut vor Suizid schützt, dann weil sie selbst eine Bremse ist. Je weniger man besitzt, desto weniger ist man bewegt den Kreis seiner Bedürfnisse ohne Begrenzung auszuweiten. Der Reichtum hingegen, durch die Kräfte, die er vermittelt, gaukelt uns vor, dass wir nur von uns selbst leben würden." (192)

Durkheim beschreibt hier, am Ende des 19. Jahrhunderts einen ökonomischen Overshoot (ebd.), wonach ein gewisses Maß an ökonomischer Bedürfnisbefriedigung zwar nötig und willkommen ist, sobald aber die "materiellen Konditionen der Autonomie ihre sozialisierende Kraft verlieren, ihre Möglichkeit Personen in die Welt und die soziale Gruppe zu integrieren, so funktioniert die Inkorporation der akquisitiven Dispositionen wie eine Quelle des Leids (source de malaise)." (192). Für Durkheim besteht also kein Zweifel darin, dass die immer weitere Entfernung von externen Beziehungen und Hindernissen, die Freiheit auszuleben, kurz das Konzept der Autonomie-Extraktion, notwendigerweise negative soziale Folgen hat: „Sobald man auf sich nicht mehr das Gewicht der anderen und der Welt spürt, verliert die Freiheit ihre Subtanz und kehrt sich ins Gegenteil.“ (193) Dies sowohl auf der individuellen, wie auch auf der kollektiven Ebene.
Die gesellschaftliche Autonomie kann für Durkheim nicht auf Basis einer kompletten Entfernung aller freiheitlichen Hindernisse, einer Extraktion derselben bestehen. In einer Gesellschaft, in der materielle Aspekte hinsichtlich der Bedürfnisbefriedigung obsolet geworden sind, ist die Ökonomie als gesellschaftliches Ordnungsprinzip unzureichend. Der Primat des Sozialen bei Durkheim entspringt nicht aus einer theoretischen Negation des Externen; das dem Sozialen externe besteht weiterhin, die Gesellschaft muss sich aber autonome „Motive des Zusammenlebens“ (194) finden. Anders gesagt: Die Ideale, die die Ökonomie verspricht, die die industriellen Gesellschaften bereits vorfanden, kann ihnen nicht ihre Emanzipation vermitteln - sie müssen sie sich selbst erarbeiten.


Die Einleitung von Abondance et liberté gab einen guten Ausblick auf das was kommen wird und die Formulierung, dass mit Kapitel 5 der „Hauptteil des Buches“ (10) beginnen würde, kann ich so bestätigen. Die 40 Seiten waren theoretisch ein echter Brocken, und was ich hier so kurz wie möglich (dieser Post ist länger als die ersten beiden Posts zusammen) zusammengefasst habe, gibt lange nicht das Kapitel als ganzes wider. Dennoch bin ich immer noch unglaublich fasziniert von der konzeptuellen Line, die Charbonnier zeichnet und während die ersten Kapitel mehr die Grundsätze lieferten, sind wir fortan gefühlt auf einem ganz anderen konzeptuellen Level, was aber einen mehr und mehr reizvollen Bezug zu den aktuellen ökologischen und sozialen Themen bietet.

  1. Zumindest meinem Verständnis nach.