Rassismus in der Polizei - Fehler oder Funktion?

Die Polizei sieht sich in letzter Zeit nicht nur in Amerika zahllosen Vorwürfen ausgesetzt. Auch in Deutschland ist die Kritik an der Polizei neu entflammt, von übermäßiger Polizeigewalt hin zu Rassismusvorwürfen, woraufhin natürlich auch gleichzeitig die Beschützer*innen und die Beteuer*innen wieder auf den Plan sprangen: Die Polizei dürfe nicht unter Generalverdacht gestellt werden, sie habe ihren Platz in der Gesellschaft, etc. Während der Diskurs sich vielfach um Rassismus in der Polizei und dessen Aufdeckung, Bekämpfung und Ausmerzung drehte, fällt eines ins Auge:
Rassismus in der Polizei, etwa in Form von Racial Profiling, wird grundsätzlich als Ausnahme gesehen, als Fehler, den es zu beheben gilt. Die Vorstellung ist, dass die Polizei als Recht schaffende und Ordnung wahrende Institution in ihrer Konzeption neutral - um nicht zu sagen farbenblind - sei. Die Polizei diskriminiert nicht, sie profiliert nicht, sie ist neutral, objektiv und blind in ihrem Urteil.
Diesem Polizeiverständnis muss man daher unweigerlich die Frage stellen: Wenn dies tatsächlich die kennzeichnende Eigenschaft der Polizei ist, wieso ist das Problem nicht bereits längst gelöst? Was hindert die Polizei daran, den Anspruch, den ihre Konzeption mit sich bringt, zu erfüllen?
Es wäre leicht, dieses Problem auf ein paar bad apples zurückzuführen, wonach die Polizei an sich zwar neutrale Vollstreckungsgewalt ist, die Individuen, die sie ausmachen, aber natürlich niemals neutral sein können. Oder auf die mangelhaften Strukturen, die ein solches Verhalten ermöglichen. So liegt der Forderung nach unabhängigen Kontrollpositionen für Beschwerden gegen die Polizei die Vorstellung zugrunde, dass durch die Identifizierung und Handhabung von individuell rassistischen Denkweisen der Rassismus in der Polizei Stück für Stück beseitigt wird. Anders gesagt: Wenn man nur alle Polizist*innen mit rassistischem Gedankengut entfernt, hätte man die neutrale und gerechte Polizei.

Was aber wenn wir die Frage umkehren? Was, wenn wir den Rassismus der Polizei nicht als Fehler im System, sondern als ein dem System immanentes Prinzip, ein für das System nützliches - wenn nicht gar, notwendiges - Mittel sehen? Ist es möglich, dass Rassismus in der Polizei kein bedauernswerter Fehler, sondern direkt aus seiner Konzeption entsprungen ist? Salopp gesagt: Was, wenn Rassismus in der Polizei kein bug sondern ein trauriges feature ist?

Rassismus

Nehmen wir als Beispiel spontane Drogenkontrollen, aufgrund derer wohl am häufigsten der Vorwurf des Racial Profiling gegenüber der Polizei fällt. In einer Studie der Europäischen Union berichteten rund 14% der mehr als 15’000 befragen Personen in den 12 Monaten vor dem Zeitpunkt der Studie von der Polizei angehalten worden zu sein - wovon 40% angaben, überzeugt davon zu sein, dass sie aufgrund ihres ethnischen oder Migrationshintergrund angehalten wurden. (European Union Agency for Fundamental Rights, 2017: 18). Die Studie ergab weiterhin, dass junge Menschen mit Migrationshintergrund öfters von der Polizei kontrolliert wurden, als ältere; und Männer häufiger als Frauen, mit der Folgerung:

„These results indicate that discriminatory police practices affect certain immigrant and ethnic minority groups more than others“ (ebd.)

Auch wenn spezifisch für Deutschland offizielle Zahlen noch fehlen, findet man immer wieder den Vorwurf, dass die Polizei in bekannten Gebieten People of Color (PoC) häufiger kontrolliert, als weiße Menschen. Wir müssen uns hier die Frage nach dem Warum stellen; und zwar nicht bezogen auf den Zeitpunkt vor der Kontrolle - also: Wie kommt es im individuellen Fall dazu, dass ein PoC kontrolliert wurde, welche Strukturen ermöglichen es und wie können wir damit den Trend erklären? - sondern bezogen auf nach der Kontrolle: Welche Auswirkungen hat die vermehrte Kontrolle von PoC, und lässt sich damit der individuelle Fall erklären?

Der französische Philosoph Michel Foucault beschreibt die Entstehung und Produktion der spezifischen Kriminalitätsform der Delinquenz mit ihren Folgen für die Polizeiarbeit und das Gefängnis. Seine These ist, dass die Produktion der Delinquenz einen unmittelbaren Nutzen für das System Strafrecht-Gefängnis-Polizei hat: „Das unübersichtliche Gewimmel von gelegentlichen und unvorhersehbaren rechtswidrigen Praktiken, die in einer Bevölkerung allgemein üblich sind ... ersetzt man durch eine relativ beschränkte und geschlossene Gruppe von Individuen, die sich einer stetigen Überwachung unterwerfen lassen. Zudem ist es möglich, diese isolierte Delinquenz auf Formen der Gesetzwidrigkeit umzuleiten, die am ungefährlichsten sind“. ([@Foucault1994]: 358), womit die Delinquenz „eine andere, gefährliche und häufig feindselige Welt“ (f.) bilde. Wenn wir dies auf spontane Drogenkontrollen übertragen, bietet sich uns folgendes Bild:

Die vermehrte Drogenkontrollen von PoC zeigen sich nicht nur als rassistisches Ungleichgewicht, sondern produzieren eben diese „andere“ Welt, sie problematisieren, sie brandmarken. Die oftmals angeführten (ob real oder erfunden spielt meist keine Rolle, deshalb irrelevant) Statistiken, wonach PoC häufiger in Drogendelikte verstrickt sind, sind kein Ausgangspunkt, sondern ein Resultat von häufigeren Drogenkontrollen. Wenn wir die These Foucaults, dass die Delinquenz im Allgemeinen die Ordnung der Gesetzwidrigkeiten und die Produktion einer suggerierten anderen Welt zur Folge hat, weiterführen, dann verschärft und reproduziert Racial Profiling die Produktion derer nur noch.
So wird hier nicht nur eine diffuse andere Welt als Masse aus Delinquenten geschaffen, sondern viel einfacher: eine mehr oder weniger eindeutig identifizierbare Bevölkerungsgruppe wird als eher delinquent gekennzeichnet. Die andere Welt ist kein „antlitzlose[r] Feind“ (Foucault, 2004: 369), der „als nahe, überall gegenwärtig und überall gefährlich erschein[t]“ (ebd.), sondern das Konstrukt einer anderen Welt, der Individuen augenblicklich vorurteilsbehaftet zugeordnet werden können.
Die Folge daraus ist ein sich verselbstständigender Prozess, in dem einerseits die Polizei selbst diese Bevölkerungsgruppe als eher delinquent ansieht (womit wir am Zeitpunkt vor der Kontrolle wären), sich dieses Bild aber auch in der Bevölkerung vergegenwärtigt: die in der anderen Welt situierten Bevölkerungsgruppen sind gebrandmarkt, was die sozialen, politischen und ökonomischen Ausgrenzungsmechanismen nur verstärkt.

Sicherheit

Bislang haben wir uns nun primär mit den Folgen und Auswirkungen von Racial Profiling als erweiterte Praktik des Konzepts der Delinquenz beschäftigt. Die eigentliche Frage, ob Rassismus - z.B. in Form von Racial Profiling - in der Polizei kein Fehler, sondern eine Folgerichtigkeit sei, ist damit aber noch nicht beantwortet. Es legt eine Antwort nahe, diese beschränkt sich aber bislang nur darauf, dass die Produktion der anderen Welt durch Rassismus nur, lapidar gesagt, einfacher ist. Gleichzeitig suggeriert es auch eine böse Absicht, gleich einer Verschwörungstheorie, wonach die Polizei insgeheim PoC diskriminiert, um ein Feindbild zu schaffen und sie einfacher fassen zu können. Tatsächlich liegt das Problem aber in der Konzeption der Polizei als Wahrer der sozialen Ordnung.

„Die Aufgabe der Polizei besteht laut Grundgesetz in der Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit“ (BPB, 2008). Auffallend ist hierbei, dass die innere Sicherheit einen notwendigen Gegenpol erfordert. Damit überhaupt ein Konzept von innerer Sicherheit bestehen kann, ist ein Konzept der innern Un-Sicherheit notwendig.1 Wir können uns also gesellschaftliche Sicherheit im Konzept der Polizei als eine Art Achse vorstellen: auf der einen Seite die innere Sicherheit - auf der anderen die innere Unsicherheit. Die Gesellschaft besitzt demnach die Qualität der Sicherheit, die auf dieser Achse variieren kann. Sie kann sicher sein, durch Ereignisse unsicherer gemacht werden, woraufhin die Polizei diese Ereignisse behandeln muss, um die Gesellschaft wieder sicher(er) zu machen.
Ausschlaggebend hierfür ist, dass für die Arbeit der Polizei das Konzept der Unsicherheit scheinbar wichtiger ist, als das Konzept der Sicherheit. Die Polizei arbeitet primär negativ: in der Beseitigung von Unsicherheiten durch Festnahme und Verwahrung, durch Gewaltanwendung, selbst die Prävention von Kriminalität in Form von Überwachung besteht aus der Negation möglicher Straftaten. Sicherheit wird negativ hergestellt; indem Unsicherheit bekämpft und unterdrückt wird.

Die Frage stellt sich unweigerlich, ob sich die "innere Sicherheit" überhaupt herstellen lässt. Anders gesagt: Wenn die Polizei ihre Daseinsberechtigung nur durch das Vorhandensein der tatsächlichen oder möglichen inneren Unsicherheit erhält, können wir uns dann - auf dieser Basis, auf diesem Konzept der Polizei - überhaupt vorstellen, dass die Polizei irgendwann ihren Dienst getan und ihre Aufgabe erfüllt hat?

Legitimierung

Hinzu kommt, dass die Polizei in Deutschland in einen demokratischen Rechtsstaat eingebettet ist. Was würde geschehen, wenn die Polizei ihre Aufgabe, die innere Sicherheit zu wahren, die „Verteidigung der Gesellschaft“ (Deleuze, 2004: 48) sicherzustellen, nicht angemessen ausführen würde? Die Polizei muss (oder sollte) notwendigerweise legitim erscheinen: Ihr Handeln muss glaubwürdig, angemessen und unparteiisch sein (was auch zum Beispiel an den vielen öffentlichen Statements der Polizei in den letzten Tagen und Wochen zu erkennen ist).

Bezugnehmend auf die grundlegende Konzeption der Polizei müssen wir aber noch einen Schritt weiter gehen: Damit die Polizei demokratisch legitim erscheint, muss die Vorstellung der Unsicherheit in der Gesellschaft bestehen und fortbestehen. Würde die Polizei beginnen, wahllos unschuldige Personen festzunehmen (oder mehr als sie es jetzt tut) oder wäre sie unverhältnismäßig gewalttätig2, würde das Vertrauen in sie als legitim erscheinende Institution verschwinden. Die Polizei muss also sicherstellen, dass ihr Verhalten nicht (zu) wahllos oder fehlerhaft wirkt, was sie durch die Skizzierung ihrer Handlungen als im Zeichen der inneren Sicherheit erreicht. Für die Polizei ist es unabdingbar, dass die gesellschaftliche Vorstellung der Unsicherheit fortbesteht. Eine Polizei, die diese Vorstellung untergräbt, schafft sich selbst ab. Die Polizei erfordert also die Konstruktion einer anderen Welt zu ihrer Legitimierung.

Und hier kommen wir wieder zurück zum Racial Profiling: Da die Polizei nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum ohne Diskurse, Normen und Wertvorstellungen existiert, produziert und reproduziert sie diese kontinuierlich. In einer hypothetischen idealen Gesellschaft, die nicht unter anderem von sozialer Ungleichheit und Rassismus geprägt ist, könnte eine rassistische Polizei nicht existieren, da eben die oben beschriebene Legitimitätswahrnehmung nicht gegeben wäre. Die rassistische Schaffung der anderen Welt durch Racial Profiling, die Konstruktion der gesellschaftlichen Bedrohung durch PoC, ist ein folgerichtiger Prozess der einerseits aus der Konzeption der Polizei, als auch der gesellschaftlichen Wertvorstellungen entspringt. Die Polizei, nicht als Summe der Individuen, die sie ausmacht, sondern als Institution mit den ihr eigentümlichen Praktiken, Strategien, und Konzepten, steht in Beziehung mit ihr äußerlichen Konzepten und Diskursen, die sie sich aneignet, auf sie verweist, aber auch selbst produziert und reproduziert.
Somit ist Rassismus in der Polizei nicht notwendigerweise eine Folge aus ihrer Konzeption - die Polizei muss nicht rassistisch sein -, jedoch birgt eine Polizei, die in einer rassistisch geprägten Gesellschaft, also einer Gesellschaft, die rassistische Diskurse und Konzepte beherbergt, stets die Gefahr eines internen Rassismus durch den Verweis, sowie die Reproduktion und Produktion von Rassismus. In einer Gesellschaft, in der PoC eine gewisse Sichtbarkeit haben, in dem sie als "Rasse" oder als "Rasse habend"3 gelten können, kann auch die Polizei rassistisch sein.
So verweist und greift sie auf das Konzept der PoC als „Rasse habend“ zurück und reproduziert es selbst erneut. PoC tragen im Diskurs ihre „Rasse“ als eigenständiges Merkmal mit sich und erscheinen so nicht nur als Individuen. Dadurch, dass „Rasse“ als diskursives Konzept sowohl manifest als auch unbewusst in der Vorstellung von Individuen existiert, ist es möglich, dass PoC als Repräsentationen ihrer jeweiligen „Rasse“ erscheinen, womit vorurteilsbehaftete Merkmalszuschreibungen entstehen und verfestig werden. Die Polizei, die notwendigerweise auf diese diskursiven Konzepte zurückgreift, auf sie verweist, und mit ihnen in Interaktion tritt, reproduziert diese Konzepte, indem sie die oben beschriebenen Merkmale - z.B. „eher delinquent“ - nicht auf das tatsächlich delinquente Individuum, sondern auf die diskursive Repräsentation der Bevölkerungsgruppe schreibt.

Kritik

Es ist schlussendlich insofern richtig und wichtig, Ansätze wie eben die Forderung von unabhängigen Beschwerdestellen zu prüfen und durchzusetzen. Rassismus in einer staatlichen Institution sollte grundlegend bekämpft werden. Hier kommt aber der gravierende Unterschied zwischen dem mittlerweile im Mainstream angekommenen Diskurs um strukturelle Probleme und konzeptuellen zu tragen. Durch unabhängige Prüfstellen kann Rassismus strukturell unterbunden werden, indem Strukturen, die Rassismus ermöglichen, beherbergen oder kaschieren, verändert werden. Gleichzeitig können so natürlich Folgen von Rassismus, wie eine Reproduktion sozialer Ungleichheit minimiert werden.
Es muss aber bewusst sein, dass so (möglicherweise) Rassismus innerhalb der besagten Institution nur unterbunden wird, sie in ihrer Konzeption aber immer noch die Möglichkeit rassistischer Grundzüge enthält. Solange wir die Interaktion verschiedenen Milieus und Institutionen, und die Konzepte und Diskurse, auf die sie zurückgreifen und austauschen, nicht kritisch analysieren, können solche Initiativen keine grundlegende Wende im Rassismusproblem in einer Gesellschaft bringen.
Als Institution in einem demokratischen Rechtsstaat kann also nicht die Rede von Generalverdacht aller Polizisten sein; die Polizei, wie auch alle anderen staatlichen Institutionen, muss jedoch zulassen, dass wir sie in ihrer grundlegenden Konzeption in Frage stellen, ihr gegenüber „eine kritische Distanz einnehmen ... [um] den Glauben an ihre Selbstverständlichkeit aus[zu]setzen.“ (De Lagasnerie, 2016: 21. Eigene Übersetzung).

Literatur

BPB (2008). Polizei.

De Lagasnerie, Geoffroy (2016): Juger. L‘État pénal face à la sociologie. Pluriel.

De Lagasnerie, Geoffroy (2020): Qu’appelle-t-on «violences policières»?.

Deleuze, Gilles (1992): Foucault. Suhrkamp.

DiAngelo, Robin (2012). What does it mean to be white?: developing white racial literacy. Peter Lang Publishing.

European Union Agency for Fundamental Rights (2017): Second European Union Minorities and Discrimination Survey. Main Results.

Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Suhrkamp.

  1. Obendrein natürlich auch noch das Konzept von Innen und Außen, was hier aber keine Rolle spielt.
  2. Für die Problematik mit der verhältnismäßigen Polizeigewalt s. De Lagasnerie, 2020.
  3. Im Gegensatz zur dominanten Bevölkerungsgruppe, die oftmals als neutral gilt, in deren Leben „Rasse“ also keine Rolle spielt. (vgl. z.B. DiAngelo, 2012: Chapter 9: How Race shapes the Lives of White People)