Abondance et liberté - Kapitel 3 "Le grain et le marché"

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Nachdem wir uns im letzten Post der Frage gewidmet haben, wem die Erde gehört, stehen wir nun in Kapitel 3 „Le grain et le marché“ mit einem Stück Land da und fragen uns: „Und jetzt?“
Genauer gesagt geht es nach der Aufteilung der Erde und des Bodens im 17. Jahrhundert für die Philosophen und Ökonomen des 18. Jahrhunderts um die Frage nach der optimalen Nutzung der Erde. Das Aufkommen der politischen Ökonomie im 18. Jahrhundert, inklusive seinen Fragen nach dem Regieren, nach einer Regierung, die der Natur des Menschen angemessen ist, ist eine bekannte und vielfach erzählte Geschichte. Aber auch hier geht es Charbonnier nicht um die bekannte Geschichte, sondern um, wie er es bildlich schön darstellt, einen analytischen „Schritt zur Seite“ (91), um so die Beziehung zur Umwelt in der politischen Ökonomie auszugraben. Im Anschluss an die Thematik des zweiten Kapitels wird die Erde im 18. Jahrhundert fein codiert, sie wird zur Ressource. Dabei ist aber die Erde nicht die hauptsächliche Ressource, sondern eingebettet in ein Schema aus „sozialen, ökonomischen [und] technischen Beziehungen“ (92). Die Ressource ist nicht die Erde, sondern das was man mit der Erde macht.
Wie im zweiten Kapitel geht Charbonnier hier auch wieder anhand zweier Beispiele, den Physiokraten und der Ökonomie Adam Smiths, vor, um anschließend in einer Art analytischem Plot-Twist im Rückgriff auf Fichte den metaphorischen Vorhang zurückzuziehen und den rückblickend offensichtlichen blinden Fleck des Denkens im 18. Jahrhundert aufzuzeigen.

Zunächst aber die gute Nutzung der Erde. Die zwei konkurrierenden Ansätze der Physiokraten Frankreichs auf der einen Seite und des englischen Liberalismus‘, vertreten durch Adam Smith, auf der anderen, entwerfen verschiedene Zugänge zur Frage nach der Nutzung der Erde und den damit verbundenen sozialen, wie ökonomischen Folgen. Das Hauptaugenmerk der Physiokraten lag dabei auf der Landwirtschaft, die sie durch die Fluktuation der internationalen Märkte bedroht sahen (94). Heute beinahe undenkbar, argumentierten viele, dass die politische Ökonomie „den Interessen der meisten und denen, die den größten Teil des Territoriums ausmachten, dienen soll[te]“ (95). Somit heißen die Physiokraten, Quesnay als Beispiel, zwar einen „flüssigen und effizienten Markt“ (ebd.) willkommen, dieser allerdings unter die Verantwortung des Staates fallen muss. Weitab vom laissez-faire des Liberalismus‘, wie er in England entstehen und sich ausbreiten wird, solle der Staat den Fokus des Marktes auf die Landwirtschaft legen, um deren Bestehen und Wachstum, mitunter das Ertragsreichtum, zu garantieren.
Bei den Physiokraten findet sich dementsprechend ein enger Bezug zur „Natur“, wie der Name andeutet. „Die phusis - der griechische Begriff, den wir mit „Natur“ übersetzen - die man im Namen der Physiokraten erklingen hört ist also ein Ding, welches seine Früchte als Gabe produziert und verteilt“ (97). Die Flüsse des Marktes sind für die Physiokraten immer unwiderruflich auf ein „simples Produktionsprinzip“ (99) zurückzuführen und untrennbar mit ihm verbunden. Geld sei damit nicht das Hauptaugenmerk von Reichtum, sondern bloß Zeichen dessen, untrennbar mit einer materiellen Basis verknüpft, die in Form „einer Quantität an nutzbaren Rohstoffen“ (98) den wahren Reichtum darstellt. Kurz: Ein Staat, der seine Böden nicht angemessen zu nutzen weiß, und sein Wirtschaftswachstum aus beispielsweise dem Handel mit anderen Produkten zieht, könne man nicht wirklich als reich bezeichnen, da das Fundament für Reichtum die Landwirtschaft sei:

„Ökonomisches Wissen ist die Verwirklichung der Vitalität der Böden und der Menschen, die sie sich teilen, unter der Garantie eines Staates der mit der Ausübung einer agrarischen Souveränität identifiziert ist.“ (100)

Adam Smith auf der anderen Seite des Ärmelkanals sieht im Denken seiner französischen Konkurrenten kaum einen Sinn. So ist es wenig verwunderlich, dass man in Smiths Konzeptionen des Wachstums und des Marktes wenig „Interesse für die ökologische Dimension des Reichtums“ (105) findet. Für Smith ist die beinahe gnadenlose Abrechnung mit dem Projekt der Physiokraten eine „bewusste diplomatische Bloßstellung“ (108); so zeichnet Smith Frankreich durch die Blume (erwähnt er doch hauptsächlich China, Indien und Ägypten als Hauptbeispiele) als ein „Überbleibsel der antiken Agrarreiche“ (ebd.), die ein fundamental suboptimales Wirtschaftskonzept betreiben, da diese beispielsweise sein postuliertes historisches Gesetz, wonach sich „Kapital zunächst in der Landwirtschaft, dann in der Industrie, und schließlich im Handel investier[e]“ (106). Während die Physiokraten also den Reichtum eines Staates im Verhältnis zu seiner materiellen Basis betrachten, setzt Smith seine Konzeption auf einer Ebene darüber an. Nicht die materielle Basis, sondern die optimale Nutzung der Arbeit an der materiellen Basis ist ausschlaggebend.

„[A]nstatt den Überfluss in den Dingen, die dem Leben direkt nutzbar sind zu suchen, ist es ratsamer einen optimalen Nutzen der verfügbaren Arbeitszeit und einer maximalen Wertschöpfung der begrenzten Gaben der Natur zu suchen.“ (110)

So stellt sich für Smith unweigerlich die Frage nach der Arbeitsteilung. Nicht die materielle Basis an sich, nicht der direkte materielle Bezug ist ausschlaggebend für den Reichtum und das Wachstum eines Staates, sondern die Nutzung, die Wertschöpfung durch zum Beispiel Arbeitsteilung zur Bearbeitung und Nutzbarmachung der Erde. Für Smith besteht kein Zweifel, dass die materielle Basis an sich inhärent begrenzt, und der Nutzen, den man daraus schlagen kann ebenso begrenzt ist (daher der Verweis auf die antiken Agrarreiche, die früher oder später an ihre Wachstumsgrenzen stießen).

Es steht hier, in den Ansätzen der Physiokraten und Smiths, die Diskrepanz zwischen intensivem und extensivem Wachstum an erster Stelle, wobei letzteres die „Quantität der primären Rohstoffe und der Energien, die dem Produktions- und Wirtschaftssystem zur Verfügung gestellt werden“ (113) betrifft, während ersteres das Wachstum im anschließenden Prozess auf Basis einer relativ stabilen Verteilung von Ressourcen betrifft (112). Nichtsdestotrotz erkennt man, dass in beiden Fällen, auch trotz der Nichterwähnung Smiths, „der Zugang zur Erde, zum Getreide, zur Energie, zur allgemeinen Konditionen der Produktion und der Reproduktion der Gesellschaft und der Welt wohl eine Koordinate ist“, (113) die beachtet werden muss, um das Denken Smiths und der Physiokraten zu verstehen.
Denn genau hier zeigen sich die zentralen Spannungen im Liberalismus Smiths. Wenn der Markt, und die Arbeitsteilung, ungeachtet der Ressourcen, also das intensive Wachstum, zentraler Punkt ist, so ergeben sich natürlich internationale Konkurrenzen.

Und hier kommt Fichte ins Spiel. Auf Basis seines Werkes „Der geschlossene Handelsstaat“ zeigt Charbonnier das zentrale Paradox des Liberalismus, die „Allgegenwart (ubiquité) der Modernen“ (121). Fichte identifiziert in seiner Kritik am Liberalismus zwei Sphären, die scheinbar unvereinbar sind. Einerseits positioniert der Liberalismus eine rechtsstaatliche Abgrenzung, wo innerhalb eines Staates und seines Territoriums sein spezifisches Recht gilt, nach dem die bekannten Rechte wie Gleichheit und Freiheit zentral sind. Andererseits verrät der internationale Handel genau diese Territorialität, indem dieser „einen illegitimen Zugang zu [den Staaten] externen Räumen und Ressourcen“ (120) bietet. Die Moderne ist daher ein Projekt, dessen juristische und wirtschaftliche Realität divergieren. Fichte offenbart damit die fundamentale Spannung im Liberalismus, die Charbonnier mit der Metapher des Überhangs (orig. „port-à-faux“, z.B. 123) beschreibt, den man zu deutsch als eine Art Vorschuss verstehen kann. Das intensive Wachstum auf Basis der Arbeitsteilung ist ohne die möglichst günstige Aneignung von Rohstoffen nicht möglich. Umgekehrt bedeutet dies, dass dieses Wachstum nur möglich ist, solange letzterer reibungslos garantiert wird. Diese offensichtlichse Diskrepanz, die im weiteren Verlauf hierbei der Kolonialismus darlegen wird, bleibt im Liberalismus aber unerkannt; Charbonnier beschreibt dies als „das Unvermögen der Modernen, sich an ihre eigenen Prinzipien zu halten“ (124), was die frühen offenbaren Spannungen zwischen Überfluss und Wachstum darstellt.

Cover-Bild: OSU Special Collections & Archives / Commons: Horse pulling plow in an orchard, southern Oregon